Marokko – wo die Berge auf die Wüste treffen

 

Unterwegs mit der kleinen Reisenduro BMW G310GS in Marokko. Die wendige BMW machte sich gut im Hohen Atlas und dem Antiatlas Gebirge.

Es ist Frühling im Hohen Atlas in Marokko. Alles blüht, die Vögel zwitschern und eine warme Brise weht. Mein kurzer Besuch hier ist die Krönung einer erfolgreichen Wintertour durch Nordafrika. Ein paar Wochen zuvor hatte ich mich auf dem Agrar-Plateau in Mauretanien einer französischen Trekking-Gruppe und einem Fernsehteam angeschlossen. Eine für die Jahreszeit untypische Hitzewelle sorgte dafür, dass wir bereits vor Sonnenaufgang aufbrachen und uns bis zu sechs Stunden vor der Mittagshitze versteckten. Einen Monat zuvor kam ich aus der algerischen Sahara, um zwei Wochen auf dem Motorrad kurvenreiche Schluchten und unberührte Sandmeere im Tassili n’Ajjer-Nationalpark zu befahren.

Wunderschöne Kurvenstrasse aus Assaragh

Heute Marokko, der einzige Ort, wo du spontan nur mit Handgepäck anreisen kannst. Mit mir reisten Simon, ein erfahrener Overlander, Trials-Protégé und Mechaniker, der mich auch in Algerien begleitet hatte, und Karim, ein alter Bekannter, der Yamaha XTs und Honda XRs quer durch Nordafrika fuhr, von Mauretanien nach Libyen und Ägypten.

Karim und ich hatten das goldene Zeitalter eigenständiger Abenteuer in der Sahara erlebt, als man noch so weit in die Wüste vordringen konnte, wie man es sich selbst zutraute. Einmal, in Mauretanien, hatte Karim das Glück herausgefordert, als er versuchte, die 800 Kilometer lange Dahr Tichitt-Piste alleine zu befahren. Ein Abenteuer, das er beinahe mit seinem Leben bezahlt hätte. Seitdem fegen unendliche Wellen der Gewalt, gescheiterte Revolutionen und Gesetzlose über die Sahara und haben das Reisen in der Wüste fast unmöglich gemacht.

Mit der BMW zum hohen Atlas

Allein Marokko ist von diesen Unruhen verschont geblieben und die letzten Saisons habe ich kleine Fly-in-Touren mit unverwüstlichen Honda XR 250 Tornado eines Verleihs in Marrakesch geführt. Nach sieben harten Jahren haben manche über 80‘000 km auf dem Tacho – und das unter Afrika-Verleih-Bedingungen, die wie Hundejahre sind. Da sie nicht mehr produziert werden, hat der Verleih sie jetzt durch die neue BMW G310GS ersetzt. Unsere Mission war es, das neue Bike auf einer Route durch den Hohen Atlas und den Antiatlas bis an den Rand der Sahara, nicht weit von der algerischen Grenze, zu testen.

Die einzigen Karten in grösserem Massstab für Marokko sind 50 Jahre alt und aufgrund moderner Strassen und riesiger Staudämme, mehr als sonstwo in Afrika, mittlerweile veraltet. Natürlich haben moderne hochauflösende Satellitenkarten deren vorzeitige Alterung noch beschleunigt. Aber nichts geht über eine grosse Papierkarte, um das Gesamtbild zu erkennen. Also habe ich zuhause noch das entsprechende Trail-Netzwerk grob von Google Maps auf eine Rolle Packpapier übertragen. Wie ich in der Vergangenheit feststellte, hilft bereits diese Übung, mir Klarheit über das Vorhaben zu verschaffen.

Der Papierkram war gegen Mittag erledigt und wir konnten das heisse, stickige Marrakesch verlassen, ich auf einer nagelneuen 310er. Mit ein paar sinnvollen Modifikationen sollte die neue Flotte gut geschützt sein; Unterfahrschutz, Sturzbügel und Handprotektoren. Man hatte sogar die Speichenfelgen einer G650GS montiert, also zurück zu Schläuchen – in meinen Augen ein Downgrade. Ausser für Rallyes sind die vermeintlich leichteren, “reparierbaren” Speichenfelgen den Gussfelgen längst unterlegen; auf ein Reisemotorrad gehören unbedingt schnell abdichtbare, schlauchlose Reifen.

Mit der BMW ins Gebirge

Im Süden war das Atlasgebirge mit Hauben aus Schnee bedeckt. Nach etwa 130 Kilometer kamen wir auf 2‘090 Metern Höhe am Tizi-n-Test-Pass an, und zwar auf der weniger befahrenen und eindrucksvolleren der beiden Strassen, die über den Hohen Atlas führen. Bald lehnten wir uns links und rechts in die Kurven, weit über der smaragdgrünen Oberfläche des Ouirgane-Staudamms, der vom Winterregen angeschwollen war.

In 1‘200 Metern Höhe breitet sich bei Ijoukak ein fruchtbares Becken im oberen Tal, unterhalb der letzten Etappe zum Pass, aus. Dorfbewohner machen die Terrassen und Plantagen urbar, aus deren Mitte sich die Ruinen der Moschee von Tin Mal aus dem 12. Jahrhundert, einer der ältesten des Landes, erheben.

Simon und Karim bei der Tin Mal-Moschee aus dem 12. Jahrhundert.

Dorfbewohner machen die Terrassen und Plantagen urbar, aus deren Mitte sich die Ruinen der Moschee von Tin Mal aus dem 12. Jahrhundert, einer der ältesten des Landes, erheben.

Tausend Jahre zuvor hatte die Berber-Almohad-Dynastie dieses Tal geprägt und die neue Stadt Marrakesch sowie das andalusische Spanien vorübergehend von den untergehenden arabischen Kalifaten und anderen Rivalen, wie dem legendären Söldner El Cid, erobert.

Im Inneren der Moschee von Tin Mal.

In Marokko und wahrscheinlich in ganz Nordafrika, differenzieren die meisten Touristen gar nicht zwischen Arabern und den einheimischen Berbern (Amazigh), dabei ist dies genauso signifikant wie ein Engländer in Irland oder Schottland. In den Grossstädten im Norden sind die Unterschiede nicht mehr so präsent, Mischehen über Jahrhunderte hinweg haben die Konturen verwischt. Jedoch in den noch traditionelleren ländlichen Regionen, insbesondere den Dörfern im Atlas, erlebt die Identität der Berberkultur, nach jahrhundertelanger Diskriminierung durch die immer noch dominanten arabischen Besatzer, eine Renaissance. Der Heilige Augustinus und wenigstens drei frühe Päpste waren Berber aus Numidien, wie man Nordafrika damals nannte.

Da wir seit vier Uhr früh auf den Beinen waren, entgingen uns diese Details der marokkanischen Ethnografie. Etwas weiter die Strasse hinauf hielt ich bei Dar El Mouahidines an, wo ich regelmässig übernachte; der Name erinnert stolz an ihre berühmten mittelalterlichen Vorfahren.

Im Süden Marokkos gibt es mehr kostengünstige Unterkünfte als Reisende. Gib deinem Wirt ein paar Stunden Zeit und er zaubert dir eine dampfende Hähnchen-Tajine mit frischem Gemüse aus dem eigenen Garten – ohne importierte Zutaten.

Moderne BMW vs. alte Honda

“Heute wird ein schöner Tag”, sprach ich am nächsten Morgen in Karims GoPro. Und so war es auch. Wir planten, die Tizi-n-Test-Strasse vor dem Pass zugunsten einer parallellaufenden Nebenstrecke über den Hohen Atlas zu verlassen. Da wir weder das Terrain noch die Reichweite der BMWs kannten, tankten wir im Dorf wieder voll, bevor wir nach Südosten in ein von der Morgensonne durchflutetes Seitental fuhren. Die Strasse fiel ab zu einem Bach und hindurch, um auf der anderen Seite einen felsigen Steilhang hinaufzuführen.

In Marokkos Bergen findest du zwei Arten von Pisten: Jene, die noch regelmässig von den Einheimischen genutzt werden, und andere, die aus welchen Gründen auch immer vernachlässigt und von Mutter Natur allmählich zurückerobert werden. Ohne Vorkenntnisse ist es ein Vabanque-Spiel: Du weisst nie, ob dich frischer Asphalt oder sturmgebeutelte Pfade voller Felsbrocken, Erdrutschen und Gräben erwarten. Bei meiner Recherche für „Morocco Overland“ letztes Jahr traf ich oft auf letztere – manche waren auf der agilen Yamaha WR250R gut zu bewältigen, bei anderen war es sicherer umzudrehen, wenn ich nicht wie auf dem Rubicon Trail enden wollte.

Verfallene Steinhäuser bieten eine faszinierende Kulisse in dem Dorf im Antiatlas.

Auf der noch ungewohnten, schwereren BMW hoffte ich auf ersteres, aber um sicher zu gehen stieg ich auf die wendige XR mit der schwachen Ausrede, meine Kumpels auf den beiden 310ern fotografieren zu wollen. Auf den in Brasilien gebauten Tornados bin ich hunderte von Meilen über Schotterstrassen gefahren, die Symbiose aus geringem Gewicht und luftgekühlter 80er-Jahre-Technologie ist ideal in Afrika – solange du unter 1‘800 Metern Höhe bleibst, wo der veraltete Vergaser der XR noch mitmacht. Derweil die 310er mit Ventilatoren und Einspritzung locker über Felsen und Furchen klettern. Als wir bei 2‘200 Metern Höhe den Tizi-n-Oulaoun-Pass erreichten, flitzten Einheimische auf einem kleinen chinesischen Bike an uns vorbei und hinter dem Kamm trafen wir auf einen Kleinlaster aus dem Dorf; diese Strecke wurde also noch befahren.

Bis hierhin lief meine grobe Navigation nach Plan und unten im Tal stiessen wir auf eine nagelneue Strasse, von der sie noch den losen Splitt kehrten. Weitere Dörfer lagen verstreut in dem von Felsen umgebenen Talkessel. Am nächsten Orientierungspunkt merkte ich mir den Kilometerstand, bald sollte uns eine Abzweigung wieder auf die Piste bringen. Dort angekommen fragte ich einen Passanten, ob der Pfad auch wirklich irgendwohin führt, dann kreuzten wir ein Flussbett und kämpften uns bergauf bis zu einer Terrasse hoch oben über dem Tal. Wie so oft, wenn man Motorrad fährt, konnten wir das majestätische Panorama erst gebührend geniessen, als wir für eine Verschnaufpause anhielten.

Die übrige Zeit verlangte selbst die agile XR sorgfältige Augen-/Hand-Koordination, um dem gefährlichen Abhang nicht zu nahe zu kommen.

Marokko abseits der Touristenpfade

Ein, zwei Stunden später hatten wir die neue Route erfasst und fanden uns, nach einer kurzen Mittagspause, auf der Hauptstrasse Richtung Osten in Assâki wieder. Anders als die nahegelegene Touristenfalle Taliouîne ist Assâki eine normale Kleinstadt, wo man sich unbehelligt bewegen kann. Die meisten Touristen hätten das unscheinbare Café am Strassenrand übersehen, wo wir eine gute Mahlzeit und Kaffee für 3 Dollar pro Kopf bekamen. Wie so oft auf unserem Planeten lohnt es sich auch hier, die üblichen Touristenstrecken zu meiden. Sicher, jene Orte sind beliebt, aber wenn du dein Glück woanders suchst, wirst du herzlich begrüsst und erhältst normale Preise.

Nach dem Essen tankten wir auf der anderen Seite der Stadt. Die neuen BMWs verbrauchten 3,9 l/100 km, gut 20 Prozent weniger als die betagte XR. 3,9 l hört sich gut an aber wir fuhren ja auch deutlich unter 100 km/h. Meine alte Yamaha XSR700 wäre sicher genauso sparsam bei dem Tempo. Eingeschränkte Leistung ist die Kehrseite eines kleinen Motorrads, aber normalerweise wiegen sie auch keine 165 kg. Wie schon die grosse R1200GS; einmal in Bewegung, fühlt sich diese wesentlich leichter an, als sie tatsächlich ist.

“Fast-fiving” ist eine neue Sitte im Dorf – kann auch weh tun.

Wir folgten jetzt einer meiner Standardrouten zur Oase von Assaragh, über einen trockenen Wasserfall eingangs einer mit Palmen bewachsenen Schlucht tief im Antiatlas. Die kleinen Gruppen, die ich normalerweise führe, sind regelmässig von der atemberaubenden Kulisse unserer gastlichen Berber-Unterkunft verzaubert – nicht zuletzt, weil die 32 Kilometer lange Piste so manchen Offroad-Anfänger überfordert. Mir wurde klar, dass ich diese Piste auf der GS selbst fahren musste. Karim bretterte auf der XR los, während Simon und ich das Fahrwerk der GS auf Herz und Nieren prüften.

Geologisch älter als der Hohe Atlas, reihen sich im Antiatlas dramatische Steilhänge und trockene Plateaus aneinander, wie herabfallende Dominosteine auf die Fastebene der Sahara. Es ist berauschend, von den kühlen, immergrünen Bergkiefern zu den raschelnden Palmenhainen der Wüste hinabzusteigen. Wie in Kalifornien kann man in wenigen Stunden von subalpinem Schnee in die heisse Salzwüste gelangen.

Der Blick zurück über die Oase von Aguinan in Richtung der trockenen Tufastein-Kaskade unterhalb von Assaragh.

Wir drei knatterten bergauf über trockene Wasserscheiden und bergab durch staubige Dörfer, die nur von Kindern und alten Leuten bewohnt schienen. Es war noch hell, als wir zur Assaragh-Lodge kamen, die BMWs auf beschädigte oder lose Teile untersuchten, uns auf der Terrasse niederliessen, die Aussicht genossen und bei Tee, Gebäck und Datteln diskutierten. Wir waren uns einig, die GS ist ziemlich gut, aber die Tornado Dual Sport war eher unser Fall.

Jeden Abend bringen die Frauen in der Oase von Aguinan grosse Bündel Futter für die Tiere.

Vom Berg zurück in die Wüste

Am folgenden Morgen, wir hatten nur zwölf Stunden um nach Marrakesch zu fahren und unseren Flieger zu erreichen, brachen wir zeitig auf zu einem der Highlights dieser Tour: eine spektakuläre, schwindelerregende Abfahrt entlang einer trockenen Tuffstein-Kaskade.

Abfahrt in Richtung Timdrart im Antiatlas.

Wir passierten eine neue Asphaltstrasse in Richtung der abgelegenen Aussenposten von Assaragh, aber uns blieb nur entweder jene Strecke aus Taliouîne, die wir gekommen waren, oder diese kupplungsmordende Kletterpartie. Dort, wo die Piste abflachte, gab es eine Furt, wo die Frauen ihre Wäsche wuschen, dann tauchten wir in einen dichten Palmenhain, der in einer breiten Schlucht mündete, vorbei an verlassenen Ksars der alten Dörfer. Für mich ist dies das Wesen Südmarokkos: enigmatische mittelalterliche Ruinen, wo die Berge auf die Wüste treffen.

Die Strasse nach Marrakesch.

In der Wüstenebene machten wir eine Teepause bei Akka Ighern, der letzten Stadt vor der schwer bewachten algerischen Grenze. Wieder umringten Kinder und erwachsene Männer die protzigen GSs und ignorierten die bescheidene XR. Ausserhalb von Akka wurde eine Kamelherde auf die Weide gebracht, während wir wieder gen Norden und in die Berge fuhren und ich nur zögerlich am Gashahn der Honda drehte, um einen zeitraubenden Tankstopps zu vermeiden.

Wir erreichten Taliouîne mit nur noch ein paar Tropfen im Tank, verschlangen eine weitere Mahlzeit für 3 Dollar und stürzten uns aus dem Süden in die Kurven Richtung Tizi-n-Test. Auf dem Ritt nach Marrakesch rieben wir uns die Hintern im Sattel wund und mit einem schweisstreibenden Sprint zum Flughafen beendeten wir die aufregenden Tage auf der Suche nach den Wundern Südmarokkos.