Vom Alltag ins Abenteuer und wieder zurück

Vom Alltag ins Abenteuer und wieder zurück

Vom Alltag ins Abenteuer und wieder zurück

 

Wie gestaltet man seinen Alltag und lebt sich wieder ein, wenn man über 2 Jahre unterwegs auf Reisen war? Heather und Dave haben den schwierigen Einstieg zurück ins Alltagsleben unterschiedlich bewältigt.

Eines der Dinge, die Dave und ich am meisten vermissten, als wir mit Motorrädern um die Welt reisten, waren unsere Kissen. Seltsam, aber wahr.

Aber die Kissen symbolisierten mehr als nur Memory Foam. Kissen zu haben bedeutet ein Bett zu haben, was auch bedeutet, ein Zuhause zu haben. Ein Ort mit einem Kühlschrank, gefüllt mit mehr als nur ein paar stärkehaltigen Lebensmitteln und Hühnchen (nie reisen, wenn man kein Huhn mag); die Getränke wären kalt und in grosser Auswahl vorhanden.

Ein Zuhause zu haben bedeutet auch ein Badezimmer mit Dusche zu haben, wo wir die Wassertemperatur regeln könnten, wie es uns gefällt. Wir könnten eine Toilette benutzen, die kein stinkendes dunkles Loch in den Dielen unter einer Hütte in der Mongolei ist oder eine Porzellan-Hockgrube in Afrika mit einem Wassereimer und einer Toilettenbürste, um die Ausscheidungen wegzuspülen.

Diese Gedanken quälten mich, während ich durch die Namibwüste fuhr oder unbequem neben Dave in einem weiteren fremden Bett lag, das uns wie einen Taco zusammenfaltete.

Wir sollten das nicht mehr wollen. Wir sollten aufgeklärte Minimalisten sein. Aber nur weil Dave und ich auf unseren Bikes durch Elendsviertel in Afrika fuhren und zwei Jahre lang in derselben Kleidung lebten, bedeutete nicht, dass wir weniger materialistisch waren. Wir wollten immer noch unseren Kram. Sogar mehr als früher. Das Problem war, dass das meiste von dem “Zeug” weg war.

Vor unserer Abfahrt verkauften Dave und ich fast alles, was wir besassen: Daves Haus, mein Geschäft, unsere Autos, Motorräder, Ausrüstung und alles andere an Freunde und Fremde – damit wir uns das Abenteuer leisten konnten und sich keine horrenden Kreditkartenrechnungen anhäuften.

Obwohl es damals sinnvoll war, das Bankkonto aufzustocken, besassen wir jetzt kaum mehr als ein paar eingelagerte Kisten. Und wo waren wir jetzt zuhause? Dave und ich begannen im Prinzip bei null, wenn auch schuldenfrei. Bevor ich im Herbst 2015 in unser Abenteuer eintauchte, lebte ich in Vancouver, Kanada, wo ich ein Kunst- und Kulturmagazin herausgab, das ich 10 Jahre zuvor in Revelstoke gegründet hatte. Dave lebte in Bellingham, Washington, und hatte sich auf Küchen- und Badrenovationen spezialisiert. Wir waren vor unserer Abreise sehr glücklich mit unserem Leben und sahen diese Reise sicherlich nicht als Flucht vor Problemen im Alltag (ausser dem frustrierenden Pendeln über die Grenze, um uns zu sehen). Deshalb dachten wir, dass wir nach unserer Rückkehr unser Leben einfach wieder aufnehmen könnten, auch ohne Haus, Job oder Auto. Wir könnten diese Dinge wieder erwerben, wenn wir zurückkämen. Es war nur Zeug.

Die Entscheidung, eine solche Reise zu unternehmen, fiel zur idealen Zeit, da sowohl Dave als auch ich den Wechsel in eine neue Lebensphase suchten. Wir führten seit etwas mehr als einem Jahr eine Fernbeziehung, als wir mit der Planung der Reise begannen. Ich liebte es Autorin und selbständig zu sein, aber mein bescheidenes Magazin war 10 Jahre alt und brauchte die Art von Veränderung, zu der ich nicht bereit war. Ich suchte nach einer Möglichkeit, mich ehrenhaft aus etwas zurückzuziehen, das mir am Herzen lag und für das ich nicht mehr die Energie hatte.

Dave war geschieden und lebte im selben Haus, in dem er mit seiner Exfrau gewohnt hatte, die ausgezogen war und ihn alleine zurückliess. Er und sein Vater hatten im Laufe der Jahre erhebliche Stunden und Energie in den Umbau des Hauses gesteckt und Daves Vater konnte nicht verstehen, warum Dave das Haus verkaufte, da er doch zurückkäme. Es war eine schwere Entscheidung, aber zum einen wollte Dave sich nicht sorgen müssen, wenn er es für zwei Jahre vermietet hätte. Der andere Grund war, dass wenn wir gemeinsam zurückkehrten (was wir hofften, nachdem wir über 700 Tage Seite an Seite verbracht hatten) wir einen Ort wollten, der ganz allein uns gehört.

Rückkehr in Etappen

Ausserdem stürzten wir uns ins Ungewisse – warum sollten wir uns mit zusätzlichem Stress belasten?

Aber würden wir immer noch so denken, wenn wir nach Nordamerika zurückkehrten und sesshaft werden wollten? Am 26. August 2017 erreichten Dave und ich unser letztes Ziel in Magadan, Russland und mussten der Heimreise ins Auge schauen.

Dave flog einige Tage später von Moskau nach Seattle und zog in das Haus seines Vaters in Arlington, Washington, ein. Mietfrei wohnen klang zwar toll, aber Dave müsste fast zwei Stunden am Tag pendeln, um in Bellingham oder der Gegend um Seattle zu arbeiten, und bräuchte ein Fahrzeug, sobald er landete. Also wurde ein Toyota Tundra finanziert.

Ich hingegen wollte die Realität (noch) nicht wahrhaben und zögerte meine Rückkehr nach Vancouver um einen Monat hinaus, hielt im Osten Kanadas an, um eine meiner besten Freundinnen und meine Schwester zu besuchen, dann weiter nach Radium Hot Springs, British Columbia, um meine Eltern zu sehen, die während meiner Abwesenheit umgezogen waren. Obwohl es reizvoll schien, in die Komfortzone zurückzukehren und alles haben zu können was ich wollte, waren Job- und Wohnungssuche nicht das, worauf ich mich freute.

In Vancouver wurde vorübergehend die Wohnung einer Freundin frei. Ich zahlte ihre Miete, während sie sechs Wochen lang unterwegs war. Die Ironie war mir bewusst. Eine Woche später hatte ich einen Job: einen schlecht bezahlten, anstrengenden, arbeitsintensiven Job – überladene Behälter mit organischen Lebensmitteln an Haushalte und Unternehmen liefern. Ich begrüsste die körperliche Arbeit ohne Bildschirm, weil ich meine gesamte Freizeit, minus Wochenenden, am Computer verbringen würde, um ein Buch über unsere Reise zu schreiben. Die Vorteile des Lieferjobs waren draussen zu sein, ohne dass ein Chef mir den ganzen Tag über die Schulter schaute, Musik oder Podcasts zu hören und dafür bezahlt zu werden, im Stau zu sitzen. Nach drei Monaten hätte ich auch Anspruch auf erweiterte Gesundheitsleistungen, etwas, das ich in meinem Erwachsenenleben noch nie hatte.

Aber all das war nichts im Vergleich zu dem, was ich vor kurzem erreicht hatte: in 708 Tagen 93‘741 km durch 40 Länder zu reisen. Nach all der Aufregung zurück in einem Job, den ich nicht wirklich mochte, hellte meine Stimmung während des trüben Westküstenwinters nicht wirklich auf.

Vom Abenteuer zurück in den Alltag

Dave und ich begannen auch bei unseren Bankkonten wieder bei null, nachdem wir das ganze Geld, das wir gespart hatten, in Motorräder, Motorradbekleidung, Motorradmodifikationen und eine Motorradreise investiert hatten. Es war, als wäre man bankrott. Jetzt zurück in Vancouver, erhielt ich einen Dollar pro Stunde über dem Mindestlohn. Davon würde ich so schnell keine neuen Rücklagen bilden können.

Aber ich hatte gelernt, nicht aufzugeben, wenn mir etwas nicht passte: das Ergebnis von fast zwei Jahren auf einem grossen Motorrad und einem Endziel vor Augen. Und das führte ich zuhause fort. Ich behielt meinen Job, weil es vernünftig war und konzentrierte mich darauf, täglich an meinem Buch zu schreiben.

Als ich die Wohnung meiner Freundin in Vancouver verlassen musste, fand ich eine hochpreisige Souterrainwohnung in Burnaby, einer Nachbarstadt, weit weg von Strand und Freunden, aber näher am Arbeitsplatz. Ein Rückschritt: Vancouver hatte seinen Reiz für mich verloren – der Verkehr und die Menschenmassen waren anstrengend. Am meisten hasste ich den öffentlichen Nahverkehr – nach über 20 Jahren mit eigenem Auto war das gewöhnungsbedürftig.

Gerade noch konnte ich mich auf zwei Räder schwingen und die Welt bereisen; wenn ich jetzt Freunde besuchen wollte, musste ich dreimal umsteigen, eingequetscht zwischen Leuten mit Mundgeruch oder Grippe, so dass ich meinen Keller kaum verliess. Meine F800GS konnte ich auch nicht fahren, weil sie in Arlington neben Daves Maschine stand, seit sie nach sechs Wochen Reise über den Pazifik von Wladiwostok zurück nach Seattle war. Es ist sowieso ein amerikanisches Bike und ich müsste es importieren, um in Kanada fahren zu können. Ohne die Freiheit auf Rädern fühlte ich mich gefangen wie ein Einsiedler. Im Alltag gab es wenig, was mich begeisterte, von montags bis freitags freute ich mich auf Samstag und Sonntag, wie fast alle in der Arbeitswelt. Ich fühlte mich nicht wohl dabei, nur aufs Wochenende reduziert zu werden.

Im Alltag leben, vom Abenteuer träumen

Dave kehrte heim wie ein hechelnder Hund, der Schatten sucht. Wir waren beide müde von der Reise, als wir Magadan erreichten. Er liebte seinen Job, hatte Projekte in Aussicht und freute sich auf die kommende Skisaison. Er lebte sich wieder gut ein, verlor aber nicht seinen Abenteuergeist. Nachts am Telefon sprachen wir über zukünftige Reisen, die wir gemeinsam unternehmen wollten: eine mehrmonatige Autofahrt durch die ’Stans, Skitouren in Patagonien, den Elbrus besteigen. Ihm fehlte auch sein altes Haus. Dave wollte sich in den Markt zurückkaufen, aber die Immobilienpreise waren seit unserer Abreise deutlich gestiegen. Nicht nur sein altes Haus war jetzt teurer, er fand auch nichts Erschwingliches in der Gegend.

In der Zwischenzeit erlebte ich meinen schlimmsten Albtraum, zumindest zu Beginn. Das letzte Mal, dass ich meinen Job hasste, war vor über 20 Jahren, als ich mit 19 nach Banff, Alberta, zog und als Haushälterin arbeite. Alle Jobs danach liebte ich – als Assistentin des Küchenchefs in einer Heli-Skihütte (kostenloses Heli-Skifahren inklusive), persönliche Köchin für Backcountry-Skigruppen, Wildwasser-Rafting-Guide, Autorin, Verlegerin, Geschäftsinhaberin. Nun musste ich wie alle anderen arbeiten, um die Miete zu bezahlen. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit fahren in einer Stadt, die ich nicht mochte, war nicht nur Zeitverschwendung, das war auch nicht ich. Was war nur los? War das die logische Folge des Verkaufs all meiner Sachen, damit ich um die Welt reisen konnte?

Mein Leben hatte sich verändert, oder zumindest das, was ich vom Leben erwartete. Die Stadt, die ich einst wegen ihrer Nähe zu den Bergen und dem bunten Chaos geliebt hatte, war heute nur noch eine Ansammlung von Gebäuden, in denen Zombies eng aufeinander lebten und arbeiteten. Ich sah nur die negative Seite. Meine Freunde waren entweder weggezogen oder nur umständlich zu besuchen, weil ich weiter weg lebte und kein Auto hatte.

Ich sagte mir, dass all dies – das teure Souterrain, der schlecht bezahlte Job und die überfüllten Busse – vorübergehend war. Es gefiel mir nicht, aber das musste es ja auch nicht. Sich wieder in die Stadt zu verlieben, würde das, was vor mir lag, viel schwieriger machen.

Neue Hürden des Alltags

Vielleicht man sich jetzt, warum Dave und ich nicht zusammenzogen; das war schliesslich der Plan gewesen und wir hatten gerade gemeinsam viel erreicht. Wir hatten uns sogar im April 2017 auf dem Gipfel des Kilimandscharo verlobt. Vor unserer Reise sprachen wir darüber, unser Leben in Bellingham gemeinsam wieder aufzunehmen. Der Plan war zu heiraten, ein Haus zu bauen und auch wieder Sachen zu kaufen.

Aber so einfach war es nicht. Niemand kann einfach in ein anderes Land ziehen, ohne Hürden zu nehmen. Nach unserer Rückkehr liessen wir einen Einwanderungsanwalt ein K1-Visum beantragen; welch ein unromantischer Begriff für das Visum für Verlobte. Auch warteten wir nun auf meine Einreisegenehmigung in die USA, Wartezeiten zwischen sechs Monaten und einem Jahr sind üblich.

Das Warten ist echt nervig; in der Zwischenzeit behelfen Dave und ich uns mit Wochenendbesuchen und Fernkommunikation, wie zu den Zeiten unserer ersten Verabredungen. Es ist ein seltsames Gefühl, in unserer Beziehung einen Schritt zurück zu gehen und gleichzeitig gemeinsam an unserer Zukunft zu arbeiten.

Unsere Weltreise war manchmal schon stressig. Am Ende waren Dave und ich ganz verrückt danach, zu einem Gefühl von Beständigkeit zurückzukehren, nachdem wir so viel Zeit in völliger Ungewissheit verbracht hatten. Zum Glück war Beständigkeit in Nordamerika im Überfluss vorhanden. Schon wenige Monate nach meiner Heimkehr begann ich, meine Situation zu akzeptieren. Obwohl vorübergehend, war dies immer noch mein Leben. Ich lernte meinen Job mehr zu schätzen: die Vergünstigungen, zeitliche Flexibilität, den regelmässigen Gehaltsscheck alle zwei Wochen.

Nach dieser Art von Sicherheit sehnte ich mich selten. Vor der Reise, mein ganzes früheres Leben lang, floh ich vor allem Vorhersehbaren und Unveränderlichen wie vor einem Bienenschwarm. Ich spürte, wie das lange Abenteuer mich verändert hatte. Stabilität war schön. Mein Souterrain war bequem, meine Vermieter im Obergeschoss waren grossartig und ich hatte ein sauberes Badezimmer, eine funktionierende Küche und genug Platz für meine Sachen, hauptsächlich das, was Dave über die Grenze mitbrachte oder was ich in den letzten zwei Jahren auf dem Motorrad dabei hatte. Alles andere was wir besassen, war immer noch in Kisten oder unzugänglich hinter Bettgestellen und einer hässlichen Couch, die Dave unbedingt behalten wollte, verpackt.

Abenteuer im Alltag

Auch Dave freundete sich mit unserem neuen Leben an. Obwohl er es hasste, im Job so viel zu fahren, dazu fast jeden Freitagabend über die Grenze und Montagmorgen wieder zurück, konnten wir an unseren Wochenenden wieder gemeinsam Abenteuer erleben, im Hinterland Ski- oder mit Mountainbikes in die Berge fahren. Ein Pop-Up-Dach auf dem Toyota Tundra, Fahrräder oder Skier unter der Markise, Scotch aus dem Duty-Free-Shop und Kettle-Chips – so hatten wir uns das Leben nach unserer Heimkehr vorgestellt. Das Einzige was fehlte war, im selben Land zu leben.

Ob wir bedauern, alles verkauft zu haben, was wir jahrelang angehäuft hatten, nur um 24 Monate reisen zu können? Im Nachhinein hätte Dave wahrscheinlich sein Haus behalten, aber sonst, nein. Erfahrung kostet Geld. Wir sind noch jung genug, um neu zu beginnen. Unser finanzieller Notgroschen war auf Embryogrösse zusammengeschrumpft, aber kann man mit Gold aufwiegen, in Bogotá zufällig in einem grossartigen Restaurant zu landen, nachdem man sich verlaufen hat, oder eine Giraffe zu beobachten, die mit deinem Motorrad in Namibia um die Wette rennt? Oder was ist mit dem einsamen Campingplatz umsonst an der Küste von Baja an Heiligabend, oder einem Heiratsantrag auf dem Berg in Tansania?

Unser Alltag heute ist weit entfernt von dem epischen Abenteuer der letzten zwei Jahre, aber je mehr man die Rückkehr nach Hause schätzt, desto besser muss die Reise ausserhalb der Komfortzone gewesen sein.

Obwohl Dave und ich weiterhin unvorhersehbar leben, hat das nichts damit zu tun, materielle Dinge loszulassen, um zu reisen. Sondern alles damit, wohin uns das Leben nach der Reise geführt hat. Obwohl wir den tiefen Drang nach ein wenig Beständigkeit verspürten, waren wir zufrieden. Heimkehren ist immer beruhigend, auch wenn dein Zuhause nicht so ist, wie du es verlassen oder erwartet hast. Schliesslich kann man sich überall zu Hause fühlen.

Aber eines ist sicher: Jedes Mal, wenn Dave seinen Duffel-Bag packt und das Haus seines Vaters verlässt, um das Wochenende mit mir zu verbringen, wird er richtig sauer, wenn er sein Kissen vergisst.

Anm. d. Redaktion Heather ihr K1-Visum für Verlobte kürzlich erhalten und lebt nun glücklich mit Dave in Washington.

Fotografieren von Menschen fremder Kulturen

Fotografieren von Menschen fremder Kulturen

Fotografieren von Menschen fremder Kulturen

 

Gute Fotos von Menschen in fremden Kulturen zu machen verlangt viel Einfühlungsvermögen. Die Technik tritt dabei meist in den Hintergrund.

Vor Jahren sah ich in Punakha Dzong, Bhutan, eine Horde von Touristen eine junge einheimische Frau umringen. Im Innenhof des Klosters hielten sie ihr Kameras, Smartphones und iPads nahe ans Gesicht und knipsten los. Die Frau, die in der Runde umlagert war wie ein Filmstar von Paparazzi, sah ängstlich, verwirrt und zutiefst unwohl aus. Fotografen nennen dies “Menschenzoo”, wenn Hobbyfotografen oder Touristen mit Kameras fremde Völker wie exotische Kreaturen behandeln und vorführen, statt die realen Menschen mit ihren wahren Gefühlen zu sehen. Ich möchte hier nicht ins Detail gehen, ob das Fotografieren von Menschen und Kulturen respektvoll, hilfreich oder gar ausbeuterisch ist. Hierzu findet man gute Debatten vor allem online – aber der „Menschenzoo“ ist ganz offensichtlich der falsche Weg.

Zum einen liefert er meist schreckliche Fotos. Ich wette, dass jene Touristen, wenn sie ihre Bilder zuhause sortierten, die nervösen Blicke des Mädchens in die Menge sahen, ihr Gesicht von einem Ausdruck der Verwirrung oder Angst getrübt; diese Fotos wurden dann wahrscheinlich gelöscht oder genauso gedankenlos, wie sie aufgenommen wurden, übergangen. Aber vor allem ist es falsch, eine andere Person als blosses Objekt der Neugierde auf ein Bild zu bannen. Diese Methode kennt kein “Hallo”, keinen Händedruck, kein Lächeln oder andere Interaktion. Nur ein schnelles, egoistisches Klicken auf den Auslöser. Die Person auf der anderen Seite der Linse wird sich wahrscheinlich ausgenutzt und entmenschlicht fühlen.

ZEIGE INTERESSE AN DEN KULTUREN

Ein solches Verhalten verfehlt auch den Sinn der Fotografie, nämlich Geschichten zu erzählen. Um eine einzigartige Sichtweise auf ein Thema zu entwickeln, sei es ein Ort oder eine Kultur, musst du zunächst etwas darüber lernen. Unterhalte dich, hör zu und stelle Fragen – und deine Bilder werden widerspiegeln, was du erfahren hast und was dich beschäftigt. Dieser Prozess ist einer der lohnendsten Aspekte des Fotografierens.

Es lag mir nie, Fremde im Ausland anzusprechen. Aber die Fotografie eröffnet neue Welten. In den letzten 15 Jahren bin ich von abgelegenen Dörfern im äthiopischen Hochland in die Favelas Brasiliens gereist, habe Orte erkundet und Menschen aus ganz anderen Kulturen als meine eigene getroffen. Ohne Kamera wäre es nie zu diesen Begegnungen gekommen. Die Fotografie kann einige der denkwürdigsten Erfahrungen im Leben hervorbringen und dir ein tieferes Verständnis für die Welt und ihre Bewohner vermitteln.

NIMM DIR ZEIT FÜR DIE MENSCHEN

Zeit ist ein wesentlicher Bestandteil der Fotografie. Natürlich gibt es Ausnahmen. Ein Bild mit Tiefgang zu erstellen, bedeutet oft, eine Verbindung zum Motiv herzustellen. Einmal arbeitete ich in Botswanas Makgadikgadi-Salzpfannne mit Angehörigen des Jul’hoansi-Stamm des San-Volkes, die gerne über ihre Traditionen, veränderte Lebensweisen, die Auswirkungen der Diamantförderung und des Safari-Tourismus sprachen. Wir verbrachten einen ganzen Tag im Gespräch, meist mit der Kamera auf dem Boden.

In den abgelegenen Bergen im Norden Thailands traf ich verschiedene Bergvölker wie die Lahu Nyi, wohnte in ihren Häusern, traf ihre Familien und erfuhr, wie sich das Leben in der Region veränderte. Es blieb viel Zeit zum Reden. Bei ein paar Gläsern Whiskey tauschten wir Ideen, Geschichten und Details aus unserem Leben aus. Stunden oder Tage mit Leuten zu verbringen, die du fotografierst, bedeutet, dass du viel dazulernst und einen wirklichen Einblick bekommst, anstatt nur schnelle Schnappschüsse zu machen.

Normalerweise erkläre ich den Locals warum ich dort bin und vergewissere mich, ob die Leute überhaupt fotografiert werden wollen. Dann versuche ich unsichtbar zu werden, ein Teil der Landschaft. So ist es einfacher, natürliche Aufnahmen von Menschen in ihrem Alltag zu machen.

GEZIELT FOTOGRAFIEREN

Vielleicht weil ich mich selbst nie gerne habe fotografieren lassen, bin ich sensibel dafür, wie sich andere im Rampenlicht fühlen könnten. Daher hat es mich über die Jahre immer wieder überrascht, wie zuvorkommend Menschen sind, wenn man sie wie eine Person behandelt und natürlich interagiert, statt ihnen einfach die Kamera ins Gesicht zu halten.

Viele erzählen ihre Geschichte gerne. Ich habe Themen von Menschenhandel über Zwangsräumungen bis hin zu Naturschutz behandelt und diese Leute schätzten die Veröffentlichung der Bilder.

Vor einigen Jahren reiste ich in das peruanische Amazonasgebiet, um den Stamm der Asháninka zu treffen, der für die Rettung ihres Landes kämpft, da ein geplanter grosser Staudamm 750 Quadratkilometer Wald überflutet hätte. Wir kommunizierten über einen Übersetzer, assen gemeinsam, tranken ein fermentiertes, rosa Yucca-Getränk und sprachen über ihr Leben, ihre Familien und ihre Verbundenheit mit dem Wald. Es war wichtig, eine Beziehung zu den Asháninka aufzubauen und das Ergebnis waren Bilder, die etwas Persönliches über den Stamm und das, was er zu verlieren hatte, vermittelten.

In El Salvador fotografierte ich einen Mann namens Wilbur Castillo, der zwei Jahrzehnte zuvor als Kindersoldat im Bürgerkrieg gekämpft hatte und seitdem mit dem Leben rang. Nachdem er etwa eine Stunde lang gesprochen und ich sein Bild vor dem Rathaus aufgenommen hatte, dankte er mir. Er erzählte, dass ihm noch nie jemand Fragen über sein Leben oder seine Erfahrungen gestellt hatte.

Diese Art von Geschichten, die von der Welt vergessen oder ignoriert werden, sind oft die befriedigendsten, an denen man arbeiten kann. Neben dem Fotografieren ist das Kennenlernen der Menschen eines der grossen Vergnügen des Reisefotografen.

BARRIEREN NIEDERREISSEN

Letztes Jahr habe ich eine Foto-Tour durch Albanien geleitet. In der Stadt Gjirokastër bekamen die Teilnehmer die Aufgabe, eine Serie Bilder von einem Einheimischen zu schiessen. Sie wurden technisch zu Porträtaufnahmen beraten und erhielten Vorschläge zum Umgang mit ihren Probanden. Ziel war es, nicht nur mit Bildern, sondern auch mit dem Namen der Person und interessanten Informationen über sie zurückzukehren. Kurz gesagt, sie sollten Fotojournalisten werden.

Stunden später in einem Café war die Gruppe voller Begeisterung. Die Übung hatte sie aus ihrer Komfortzone gedrängt. Bei der Fotografie geht es nicht nur um Kamerabeherrschung und Komposition, sondern auch um soziale Kompetenz. Menschen müssen sich in deiner Anwesenheit wohlfühlen. Wenn du ängstlich und ungeschickt bist, überträgt sich das auf die Person, die du fotografieren willst. Schlimmer noch, bist du unfreundlich oder unhöflich, wirst du wohl kaum Freundlichkeit oder Unterstützung erfahren. Egal wie viel Zeit du hast, es geht immer darum, Vertrauen und eine Art Beziehung aufzubauen.

LÄCHLE DIE MENSCHEN AN

Ein Lächeln bringt viel. Manchmal ist es nicht möglich, vor dem Fotoshoot Stunden oder Tage mit jemandem zu verbringen. In diesen Fällen helfen in der Regel ein aufrichtiges Lächeln, Augenkontakt, auf die Kamera zeigen und vielleicht hoffnungsvoll “Okay?” fragen, um das Einverständnis zu bekommen. Menschen auf der ganzen Welt sind viel freundlicher und hilfsbereiter, als wir denken oder von den Medien dargestellt. In jedem Land, in dem ich gearbeitet habe, waren die Einheimischen sehr herzlich und glücklich, einem Fremden zu helfen.

Ich vermeide für Fotos von Personen zu bezahlen, da dies Situationen heraufbeschwört, in denen sie Kostüme tragen oder „lokale Bräuche” nur für Touristen vorführen. Das wirkt künstlich und kann der lokalen Kultur schaden.

Wenn es jemand ablehnt, fotografiere ich ihn auch nicht. Aber ich laufe oft durch einen Ort und mache Aufnahmen von Menschen, ohne dass sie es wissen, sei es diskret mit dem Zoom oder schnell, bevor sie meine Kamera bemerken. Beispielsweise ziehen es einige Menschen in Marokko, insbesondere ältere Frauen, vor, sich nicht fotografieren zu lassen. Suche in diesem Fall das Gespräch mit Leuten an Marktständen oder in Bäckereien, die nichts dagegen haben, fotografiert zu werden oder fotografiere sie im Gedränge oder beim Schlangenstehen, um ein Gefühl von ihrem Alltag zu vermitteln.

Im Punakha Dzong-Kloster in Bhutan fotografierte ich auch Einheimische, aber mit Respekt. Manchmal bedeutete das, zuerst das Gespräch zu suchen, andere Male schoss ich Fotos aus der Ferne. Ich bemerkte eine junge Frau auf einem Balkon und fotografierte sie mit einem Zoom. Die Frau sah dies, wir hatten Augenkontakt, ich lächelte und sie lächelte zurück. Sie schaute in meine Linse, während ich ein paar Fotos machte; dann schaute sie wieder vom Balkon aus in die Ferne, während ich weiter fotografierte; zu keinem Zeitpunkt hatte ich das Gefühl, ihren Tag ruiniert zu haben oder respektlos gewesen zu sein.

Nicht alle Fotos können das Ergebnis einer Zusammenarbeit sein oder im Voraus vereinbart werden. Strassenaufnahmen funktionieren am besten, wenn sie spontan das Leben in Bewegung einfangen. Solche Bilder favorisiere ich zunehmend, denn sie sind natürlich und unverfälscht. Ein kurzer Moment im Leben einer Person oder eines Ortes.

Auf den Strassen von Havanna oder Luang Prabang will ich nicht, dass Menschen für die Kamera posieren und ihr Verhalten ändern – ich will das Authentische zeigen. Auch hier geht es um Respekt und den sinnvollen Dialog mit einem Ort oder einer Kultur. Es ist leicht, sich in offensichtlichen Details zu verlieren, aber je mehr man unter die Oberfläche geht, desto mehr gibt es zu sehen, nachzudenken und zu kommunizieren. Deine Fotos haben dann eine tiefere Bedeutung.

Auf der ganzen Welt sind Menschen unendlich faszinierend. Das Letzte, was du mit deinen Fotos erreichen willst, ist, sie auf falsche Art abzubilden.